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Ein Abend auf Twitter. Zwei Professoren streiten sich um eine mathematische Gleichung zur Coronakrise. Was für Außenstehende wie ein eitler Gelehrtenstreit wirkt, schaukelt sich auf der Plattform mit tausenden beteiligten Usern zum scheinbaren Entscheidungskampf zwischen Gut und Böse hoch. Es wird beleidigt, gespottet und gedroht. Das ist mittlerweile der Normalfall. In öffentlichen Debatten geht es nicht mehr darum, sich auf Augenhöhe zu begegnen und einen Konsens zu finden, sondern die Deutungshoheit zu gewinnen –  also die dominierende Interpretation eines Sachverhalts. Warum das so ist, wem es nützt und wie man sich dagegen immunisieren kann.

Daumen hoch oder runter, so fällten die römischen Kaiser ihr Urteil bei den Gladiatorenkämpfen. Like oder Dislike heißt es in der öffentlichen Arena heute, eine andere Option scheint es nicht zu geben. Die Logik der sozialen Medien hetzt gesellschaftliche Gruppen aufeinander. Alle Gleichgesinnten stehen in einem virtuellen Raum, in dem alle dasselbe rufen, das Echo immer lauter wird und sich alle in ihrer Meinung bestätigt fühlen. So finden übereinstimmende Meinungen zusammen – und getrennte Welten entstehen. Die klassischen Medien greifen diese Stimmungen auf und erwecken in einer hektischen Echtzeit-Berichterstattung zugleich den Eindruck, das nächste „große Ding“ stünde unmittelbar bevor. Nur so bleiben die User bei der Stange und kehren immer und immer wieder. Die Folge ist eine Dauererregung mit immer extremeren Positionen, wie wir sie derzeit besonders in den USA beobachten können: „Wir leben unter der naiven Annahme, die Wirklichkeit sei natürlich so, wie wir sie sehen, und jeder, der sie anders sieht, müsse böswillig oder verrückt sein“, beschrieb es der berühmte Psychologe Paul Watzlawick. Wer anderer Ansicht ist, wird niedergebrüllt. Wem es gelingt, der Interpretation eines Geschehens seinen Stempel aufzudrücken – der versammelt die Truppen hinter sich. Der entscheidet, was für einen Teil der Öffentlichkeit zu einem bestimmten Zeitpunkt die Realitätswahrnehmung bestimmt.

Meinungsmacher übernehmen die Deutungshoheit

Viele große Meinungsmacher unserer Zeit haben das erkannt. Sie nutzen die Funktionsweise des neuen Mediensystems zu ihren Zwecken aus. Dabei mobilisieren sie eine Minderheit aus ihrer Nische und setzen ihre Themen über die sozialen Netzwerke. Donald Trump ist das offensichtlichste Beispiel dafür – ihm gelang es selbst nach seiner Abwahl noch, absurde Fantasien über einen Wahlbetrug medial wochenlang diskutieren zu lassen. Aber auch die Aktivistin Greta Thunberg hat es mit ihren zugespitzten Auftritten und ihrer radikalen Sprache geschafft, die westliche Klimabewegung zu radikalisieren und das Thema in den Mittelpunkt der öffentlichen Wahrnehmung zu bringen. Oder nehmen wir den amerikanischen Multiunternehmer und Börsenheld Elon Musk. Ihm folgen allein 40 Millionen Fans auf Twitter. Das ist eine gewaltige Anhängerschaft, die ihn beinahe wie einen Religionsführer verehrt und gegen jede Kritik immunisiert – ja mitunter als digitaler Mob sogar Kritiker öffentlich angeht. Eine PR-Abteilung wird da überflüssig, deshalb hat sie Tesla kürzlich auch abgeschafft. Das Unternehmen ist, ungeachtet eher bescheidener Verkaufszahlen, der wertvollste Autobauer und Musk einer der reichsten Menschen des Planeten geworden.

Alle drei Beispiele inszenieren ihre Aktivitäten als eine Art Kampf David gegen Goliath (was absurd anmutet, da beispielsweise Trump und Musk ja über enorme Machtmittel verfügen). Alle Drei nutzen vor allem die direkte Interaktion mit ihren Fans auf den sozialen Netzwerken. Alle Drei spielen in ihrem Interesse mit den Hoffnungen und Ängsten ihres Zielpublikums – auch wenn man die Ziele individuell völlig unterschiedlich bewerten mag. Die Fans und Follower fühlen sich ihren Idolen zugehörig, verbreiten deren Ideen und verteidigen sie im öffentlichen Diskurs. Das geht heute durch die sozialen Netzwerke viel einfacher, ist aber nicht neu. Der Wunsch, sich mit anderen zu verbinden und einer gemeinsamen Sache zugehörig zu fühlen, ist tief verankert. Wir wollen von einer Gruppe persönliche Anerkennung erfahren, auch indem wir uns von anderen Sichtweisen abgrenzen und unseren Stamm gegen den anderen verteidigen. Natürlich wirken viele Meinungsmacher auch inspirierend. Wollen wir andere für unsere Ziele gewinnen und eigeninitiativ die großen und kleinen Dinge des beruflichen und privaten Alltags voranbringen, können wir von ihnen jede Menge lernen. Wir mögen es, begeistert zu werden und lassen uns gerne faszinieren. Und wer andere für sich einnimmt, kann sich von diesem Rausch auch zu Höchstleistungen tragen lassen. Daran ist nichts verkehrt, und wir können so in der Gemeinschaft auch unmögliche Dinge zusammen erreichen.

Das Leben ist ambivalent

Doch wenn wir aber vermeintliche Wahrheiten als gesetzt und unveränderlich hinnehmen, geben wir unser Schicksal in andere Hände. Dann bekommen diejenigen die Verantwortung, die uns ihre Sicht der Dinge als endgültig verkaufen  – und die Deutungshoheit über den Diskurs gewonnen haben. Der Soziologe Zygmunt Bauman zeigte in seinem Buch Moderne und Ambivalenz, wie stark die Moderne immer wieder auf Ordnung ausgerichtet war und die Menschen darin auf „Entweder-oder-Unterscheidungen“ trainiert worden sind. Das führte direkt in politische und gesellschaftliche Katastrophen, wie die totalitären Regime des 20. Jahrhunderts mit ihren Millionen von Opfern bewiesen haben. Die Angst vor Ambivalenz, die fehlende Akzeptanz von zwiespältigen Gefühlen und Situationen, die zum menschlichen Dasein aber einfach dazugehören, ist eine Last der Vergangenheit, die wir eigentlich abgeschüttelt zu haben glaubten.

Wir haben es selbst in der Hand

#1 Bemühen wir uns daher unbedingt, zwanghafte Vereinfachungen zu vermeiden. Akzeptieren wir, dass das Leben unauflöslich widersprüchlich und komplex ist.

#2 Gehen wir davon aus, dass auch andere Interessen haben, die wir vielleicht erst einmal nicht verstehen oder die unseren auch zuwiderlaufen können. Ihr Engagement dafür ist in den meisten Fällen legitim. Doch weder müssen wir gedankenlos mitlaufen noch mit hohem Blutdruck dagegen anschimpfen.

#3 Idealisieren wir Meinungsführer nicht, ganz gleich wie gut uns ihre Absichten auch erscheinen mögen. Sie verfolgen mit ihren Auftritten immer auch eine persönliche Agenda, die wir im Zweifel eben nicht bis zum Letzten durchschauen.

#4 Nehmen wir außerdem Informationen aus den Medien als das, was sie sind – kleine, ausgewählte und zugespitzte Ausschnitte der Realität aus Sicht der jeweils beteiligten Personen. Sie sind kein Abbild der „Wahrheit“, sondern erzeugen eine einfache Welt in Schwarz und Weiß. Im echten Leben aber überwiegen die Grautöne.

#5 Ignorieren wir daher die täglichen Provokationen in den sozialen Netzen. Die zunehmende Verrohung der öffentlichen Debattenkultur, wie sie beispielsweise beim eingangs erwähnten Professorenstreit in Gang kam, entsteht ja nicht allein durch die Protagonisten. Sondern vor allem durch jene, die den Ball aufnehmen – und damit in letzter Konsequenz durch uns, das Publikum. Wir alle haben es selbst in der Hand, dieses Spiel nicht mitzuspielen. Statt uns etwa über lautstark über Meinungsmacher aufzuregen, die uns nicht in den Kram passen, sollten wir öfter schweigen. Oder, das wäre der paradoxe Alternativvorschlag, wir müssen eben auf Basis unserer eigenen Werte selbst zu einem werden.

Autor: Sebastian Callies